"
Registrieren Login
Aufgabe 9
a) Am Ende des letzten Absatzes kommentiert der Erzähler: «Das Leben schreibt doch die schönsten Geschichten.» Was macht diese Geschichte inhaltlich schön?
  • Dass viele Leute einen schönen und unterhaltsamen Samstag hatten.
  • Dass der Mann schlussendlich erfolgreich umziehen konnte.
  • Dass der Mann eine neue Wohnung gefunden hat.
  • Dass einige Zuschauer den Mann nicht mehr auslachen, sondern unterstützen.
Mögliche Punktzahl: 4, erreichte Punktzahl: _
b) An der Einstellung der Zuschauenden ist jedoch nicht alles so schön. Lies im dritten Abschnitt von «Kein anständiger Mann …» bis «… auf dem Claraplatz.» noch einmal. Was ist an den dort erwähnten Vorstellungen und Gedanken nicht schön?
  • Die Zuschauer denken abschätzig über den Mann.
  • Die Zuschauer finden der Mann gehört mit seinem Verhalten nicht auf den Claraplatz
  • Die Zuschauer lachen über das Unglück des Manns.
  • Die Zuschauer finden den Mann hässlich.
Mögliche Punktzahl: 4, erreichte Punktzahl: _

# Menschen, einem Missgeschick zuschauend

Man hört die Leute von Weitem lachen. Sie stehen auf der Traminsel, dem Trottoir, ein paar sind auf den Tramschienen stehen geblieben. Alle blicken auf einen Mann, er mag vielleicht Mitte fünfzig sein, und auf ein Wägelchen, das so hoch beladen ist, wie der eher kleine Mann gross ist. Man erkennt ein zusammengeklapptes eisernes Bettgestell, zwei Matratzen, drei pralle, verschnürte Jutesäcke, zwei grüne, verschlissene Polster und auf den Polstern mehrere Koffer. Auf den Koffern liegen Pappschachteln aufgetürmt, mit mehreren Schnüren umwickelt; zuoberst ist ein zusammengerollter Teppich zu erkennen, aus dem Besenstiele herausragen. Gekrönt wird dies alles von vier Stühlen, die mit der Sitzfläche nach unten den zusammengerollten Teppich ein rahmen.

Offenbar sind die Stühle heruntergefallen; jetzt, als ich näher komme, ist der Mann damit beschäftigt, sie wie der an ihrem Ort zu befestigen. Er tut das ohne Hast, ohne sich um die Zuschauer zu kümmern. Er hat ein kräftig geschnitztes Gesicht, schwarzgraue Haare, dunkelbraune Augen; er ist untersetzt, mager und breitschultrig. Nun umkreist er mit langen, bedächtigen Schritten noch einmal diesen Riesenballast, nimmt Augenmass, geht zur Deichsel, packt sie prüfend an und beginnt zu ziehen.

Ich betrachte die Gaffenden: Einige schütteln missbilligend den Kopf. Ob die Missbilligung dem überfrachteten Wägelchen gilt oder dem Mann? Kein anständiger Mann transportiert doch auf diese Weise seinen halben Hausrat! Das kann man anderswo machen, aber hier sind wir in Basel, auf dem Claraplatz. In die Gesichter tritt nun Neugier, Spannung, Staunen, Zweifel, Belustigung auch. Die Zahl der Gaffer wächst. Es ist elf Uhr morgens, Samstag, man hat in einem der drei Warenhäuser eingekauft und schlendert dann ins Restaurant; nun dieses unerwartete Schauspiel.

Es klappt! Der Mann, rückwärts gehend, seine Augen auf die Fuhre gerichtet, hat nun ungefähr drei Meter vorwärts gemacht, in Richtung Rheinbrücke. Schon will man sich abwenden, da, in diesem Augenblick, gerät das linke hintere Rädchen in eine Tramschiene, die Ladung beginnt zu rutschen. Die Stühle, dann die Pappschachteln und der zusammengerollte Teppich fallen auf den Boden, die Koffer mit sich ziehend, dann rutschen auch die Polster nach, dann die Säcke. Gelächter. Es ist tatsächlich komisch. Ungerecht wäre es, von Schadenfreude zu reden.

Der Mann bleibt unbeirrt und beginnt, Ordnung zu schaffen. Er schwitzt, doch seine Tätigkeit ist ohne Nervosität, ohne Hast. Die Zuschauenden lachen wie im Kino. Niemand hilft. Wer hilft schon im Kino? Der Mann hat inzwischen die Stühle wieder platziert, überprüft das Getane und schickt sich schliesslich an, seinen Karren weiterzuziehen. Er ist allein auf der Welt. Er hat seine Aufgabe.

Vermutlich hat der Mann etwas zu rasch gezogen: Die Stühle fallen links und rechts nieder wie Flügel und schliesslich plumpst alles auf den Asphalt. Das Wiehern der Zuschauer erfolgt wie auf eine gelungene Clown-Nummer. Ein paar Gesichter freilich lassen Bedenken aufkommen. Niemand hilft. Was wird der Mann nun machen? Dieser Mann auf dem Mond?

Er macht weiter, türmt alles wieder auf und zieht. Man wartet ab. Grinst. Starrt. Diesmal klappt es. Die Menge beginnt zu klatschen. Fünf Meter hat der Mann mit seiner Last hinter sich gebracht. Da gerät das Wägelchen in eine Art Eigenschwingung, die Beine der Stühle zappeln und schwingen, die Schachteln rutschen hervor, und ganz unten beginnt das eiserne Bettgestell sich abzusetzen, die Matratzen kleben sich verzweifelt an ihre Unterlage und folgen nach, die Polster; alles, ja alles. Wirklich alles. Die Menge johlt, klatscht, lacht. Dann überqueren beherzte Leute die Strasse; sie reden freundlich auf den finsteren Mann ein, den seltsamen; er hört zu, ohne zuzuhören, will seine Arbeit von Neuem beginnen –, aber man beginnt die Sachen aufzuheben, zu sortieren, und am Ende bringt man den Mann mit seinen Sachen buchstäblich um die Ecke und in eine Gasse, in der er offenbar zu wohnen gedenkt. Das Leben schreibt doch die schönsten Geschichten.

nach Jürg Federspiel